Führer durch das Schwesternhaus       

  1. Allgemeine Informationen

  2. Geschichte der Ordensschwestern in Kirdorf

Der katholische Pfarrer Weber holte im Jahre 1866 mit Zustimmung des Mainzer Bischofs Ketteler drei Schwestern von der Göttlichen Vorsehung in Mainz nach Kirdorf. Diese drei Schwestern (Bonaventura, Hilaria und Elisabeth) übernahmen zunächst den Schulunterricht der Mädchen und den Haushaltsunterricht. Ihre Wohnung nahmen sie im Gemeindeschulhaus an der Bachstraße, der heutigen Alten Schule. Ihre Tätigkeit durfte nur 6 Jahre dauern, denn die  staatliche Gesetz­gebung verbot 1872, in der Zeit des Kulturkampfs, das Wirken von Ordensleuten in öffentlichen Schulen. Die drei Schwestern gingen zunächst wieder nach Mainz zurück.

Exkurs:  Kirdorf hatte 1871 insgesamt 1649 Einwohner, von denen nur 132 nicht katholisch waren. Somit waren 92 % der Einwohner Katholiken. Zwar tobte der Kulturkampf insbesondere zwischen den katholischen Kirdorfern und den evangelischen Homburgern, aber auch innerhalb Kirdorfs spürte man deutlich die Auswirkungen des Kulturkampfs.

Aber die Kirdorfer wollten die Schwestern nicht mehr missen und holten kurze Zeit später die Schwestern Bonaventura und Berharda zur ambulanten Krankenpflege ins Dorf. Das hilf­reiche und nützliche Wirken der Schwestern und die positive Erfahrung der Kirdorfer führten schnell zu der Überzeugung, dass man die Schwestern unbedingt behalten wollte. Unter Leitung des Kirdorfer Bürger­meisters Johannes Raab, der ein fanatischer Anhänger seiner Kirche war, und des Pfarrverwalters Johannes Stumpf begannen die Kirdorfer  im Jahre 1873 mit dem Bau eines Schwestern­hauses, an dem sich nicht nur die Männer, sondern auch Frauen und Kinder beteiligten.

Der Bau der Kirchen- und der Ortsgemeinde­­ sorgte für einen enormen Streit zwischen der damals noch selbständigen Landgemeinde Kirdorf und der Stadt Homburg. In dieser Zeit des Kulturkampfs, wo anderswo Klöster, Schwestern­häuser und katholische Ein­richtungen geschlossen wurden, wo Kirdorfer und Homburger Katholiken vor Gericht kamen und wurden bestraft wurden, errichteten die Kirdorfer mit starkem Willen, großer Opferbereitschaft  und hohem persön­lichen Einsatz ihren Ordens­schwes­tern ein eigenes Haus. Am Karfreitag, der damals für die Katholiken noch kein Feiertag war, soll das emsige Treiben auf der Baustelle einem Bienen­schwarm geglichen haben und am dritten Pfingstfeiertag sollen mehrere Hundert Helfer am Bau gearbeitet haben.

Als finanzieller Grundstock diente der seit 1853 bestehende „Kapellenfonds“, der bereits 1869 ein Vermögen von 1804 Gulden vorweisen konnte. Mittels dieses Vermögens wollten die Kirdorfer ursprünglich auf dem gegenüber des alten Ortskerns gelegenen Engelsberg eine Kapelle errichten.  Im Hauptgebäude wurden Wohn- und Arbeitsräume für die Schwestern und eine Kapelle geschaffen. Ein Teil des Gebäudes konnte bereits im Februar 1874 in Gebrauch genommen werden. Die Einweihung erfolgte 1874. Die erste Oberin wurde Schwester Bonaventura.

Bald danach wurde innerhalb des Gebäudes eine Kinderschule („Klein­kind­erziehungs­anstalt“) mit staatlicher Genehmigung errichtet, denn die Schwestern betätigten sich neben der ambulanten Krankenpflege, der Haushaltshilfe und der Altenpflege auch mit der vorschulischen Erziehung.  Ein Krankenhaus oder eine Krankenpflegestation, wie sie in der Dorotheenstraße in Bad Homburg zur Verfügung stand, gab es in Kirdorf nicht.

Die vorschulische Betreuung war außerordentlich erfolgreich. Daher musste bereits 1907/ 1908 ein Erweiterungsbau errichtet werden, in dem die Klein­kinderschule Einzug hielt. Von 1905 bis 1916 hatte Schwester Anatolia die Leitung. Sie beaufsichtigte täglich mehr als 100 Kinder, lehrte sie manches Nützliche, und eine große Anzahl davon speiste sie mittags. Die nutzbringende pädagogische Arbeit wurde kontinuierlich fortgesetzt. Sie erlitt einen Einbruch durch die auf staatlichen Befehl 1941 durchgeführte Schließung der katholi­schen Einrichtungen. Ab diesem Zeitpunkt führte die nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) in den Räumen des Schwesternhauses einen Kindergarten.

Nach Kriegsende über­nahmen die Schwestern wieder ihre eigene Einrichtung und Schwester Davida leitete weiterhin die Kleinkinderschule, die nun Kinder­garten genannt wurde. Als Schwester Davida um 1960 Kirdorf verließ, musste die Leitung des Kinder­gartens Erzieherinnen übertragen werden.  Weil das Landes­jugendamt den Kindergarten am Schwesternhaus als nicht mehr den Erforder­nissen der Zeit entsprechend befunden hatte, plante die Pfarrgemeinde einen Neubau am Usinger Weg, der 1974 eingeweiht wurde. Damit endete nach fast 100 Jahren die Betreuung von Kleinkindern hier im Schwesternhaus.

Neben der Kleinkindererziehung nahmen die Schwestern auch praktische Erziehung wahr. So boten sie in der sogenannten Nähschule das Erlernen von Handarbeiten an, das von den älteren Mädchen bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg intensiv genutzt wurde.Im Schwesternhaus wirkten bis zu acht Schwestern, die im Schwesternhaus in Klausur wohnten. Ein großes Jubiläum für die Pfarrgemeinde und die Schwestern war das 100 Jährige Bestehen der Schwe­stern­station. Damals waren nur noch drei Schwestern tätig. Der Nach­wuchs­­­mangel war akut, was letztlich zur Auflösung der Schwesternstation führte. Die beiden letzten Schwestern Adelheid und Leonida verließen Kirdorf am 30. September 1971. Die Schwesternstation der Nachbargemeinde St. Marien schloss aus dem gleichen Grund wenige Jahre später, 1976.

Das segensreiche Wirken der Schwestern animierte 17 Mädchen aus Kirdorf, in die Kongregation der Schwestern der Göttlichen Vorsehung einzutreten.

Die katholische Pfarrgemeinde übernahm das vakante Schwesternhaus und gestaltete es in ein Gemeindezentrum um. Die Betreuung vor Ort wurde dem Hausmeisterehepaar Mikutta übertragen, die seitdem hier wohnt und tätig ist. In den Räumen, dem Hof und dem Garten des Gemeindezentrums finden heute viele Veranstaltungen der Pfarrgemeinde und der Ortsgemeinde statt. Es bildet heute nicht nur an Kerb und Fronleichnam einen lebendigen und beliebten Mittelpunkt von Kirdorf.  

  1. Gebäudebeschreibung

Das Schwesternhaus-Anwesen wurde auf dem Engelsberg errichtet, der seinen Flurnamen vom Kloster Engelthal (bei Altenstadt/Büdingen) hat, dem dieser Hügel ursprünglich gehörte.Das Hauptgebäude des Schwesternhauses mit integrierter Kapelle wurde 1873/ 74 mit Spenden und in Kirdorfer Eigeninitiative erbaut. Viel Geld und weit über 20.000 Backsteine wurden gestiftet. Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Arbeiten und Fuhren von Kirdorfer Handwerkern und Bauern kostenlos ausge­führt. Eigentümer von Grund und Boden war die katholische Kirchengemeinde, die auch das Gebäude errichtete und es der Genossenschaft der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung in Mainz zur Verfügung stellte.

Am 24. Juni 1874, dem Pfarrfest der Pfarrei, fand durch Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler die feierliche Einweihung des Schwesternhaues statt.Zweigeschossiger, weit sichtbarer Bau mit Satteldach und achtseitigem Dach­reiter (Türmchen, mit aufgemalten Schallarkaden). Die traufseitig zum alten Ortskern ausgerichtete Dreizonenfront ist lisenen- und gesimsgegliedert und zentral übergiebelt. Fenster Traufgesims gotisierend. Diese äußeren Zeichen des Klassizismus finden sich wieder an der 1889/90 seitlich angefügten, als fünf­seitiger Chor in Erscheinung tretenden Kapelle. Der Dachreiter trug ursprünglich als Wetterfahne das Muttergottesbild, das vormals den Dachreiter der alten Kirche gekrönt hatte.

Der freistehende Saalbau wurde 1907/1908 errichtet. Das Dachgebälk soll aus der 1858 abgerissenen alten Kirche stammen. Das Gebäude wurde als Kinder­garten mit zwei großen Räumen, Küche, Toiletten und Waschräumen genutzt. Heute befindet sich in dem Gebäude ein großer Gemeindesaal.  Die Errichtung des Waschküchen-Anbaus (heute Küche und Abstellraum) und der angren­zen­den offenen Liegehalle stand im Zusammenhang mit dem Kindergarten und wurde  – dank eines großzügigen Wohltäters – 1949 realisiert.

Das Schwesternhaus ist insgesamt ein bis ins Detail (Haustür, Verglasung etc.) außer­ordent­lich gut erhaltener Bau, bei dem heute einige Renovierungs­­maß­nahmen anstehen. Aus orts-, religions- und architekturgeschicht­lichen Gründen wurde das gesamte Ensemble als Kultur­denkmal geschützt. 

  1. Einweihungsstein

Über der Eingangstür befindet sich ein weiß gestrichenes schildähnliches Relief aus rotem Sandstein. Der Engelskopf weist auf den alten Flur­namen „Engels­berg“ hin, auf dem das Schwesternhaus errichtet wurde. Viele Kirdorfer sahen in dem Engelskopf die engelsgleichen Schwestern versinnbildlicht. Die Zahl darüber erwähnt das Errichtungsjahr.

  1. Eiskeller

Unter dem Hof befindet sich ein kuppelartiger Eiskeller aus Feldbrandsteinen. Der Zugang dazu befindet sich am Stedter Weg (Schiebetür aus Metall). Dort wurde im Winter Eis eingelagert, das im Sommer zur Kühlung benötigt wurde. Das Natureis wurde auf Wiesen (z.B. in den Böttwiesen, hinter Hotel Victoria) erzeugt, wo man Bäche aufstaute und das Wasser zu dickem Eis gefrieren ließ. Das Eis wurde in Blöcken heraus gesägt und in den Eiskeller verbracht. Die guten Erlöse aus dem Eisverkauf halfen zur Finanzierung des Anwesens und waren eine wichtige Einnahmequelle der Schwestern. Nach Entwicklung des Kunsteises wurde die mühsame Aufbewahrung von Natureis hinfällig. Der Eiskeller wurde umfunktioniert zu einem Bierkeller. In dieser Funktion wurde er etwa bis vor 10 Jahren genutzt. Heute steht er leer. 

Exkurs: Der heute zugemauerte Zugang links neben dem Eiskellereingang führte in den Vorratskeller (Kartoffelkeller) der Schwestern, in dem sich heute der Clubraum der Grashoppers befindet.

  1. Gotischer Wimperg

An der südlichen Schmalseite des Kindergartens eingelassen ist ein spät­goti­sches „Marterl“ oder „Wimperg“. Es ist das älteste noch erhaltene Kultur­denkmal der Kirdorfer Geschichte. Es dürfte Ende des 15./Anfang des 16. Jahrhunderts entstanden sein. Es ist ein krabbenbesetzter Kielbogen mit Thympanon­relief, das beidseitig des Kreuzes Jesu die Leidenswerkzeuge (Dornen­krone, Hammer und  Zange), die Würfel der Folterknechte und eine, das römische Imperium versinn­bildlichende, schlangenumwundene Säule darstellt. Das Fragment stammt vermutlich aus dem Dreißig­jähri­gen Krieg, im Juni 1622 niederge­brannten ältesten Kirdorfer Kirche. Dort diente es wohl zur Bekrönung der Sakramentsnische (wahr­schein­lich über einer Nische in der Chorwand). Das wertvolle Kulturgut ist aus religionsgeschichtlichen und künstlerisch­en Gründen als Kulturdenkmal geschützt.

Exkurs: Der darüber im Fenster unter dem Giebel aufgestellte Kopf ist eine moderne Holzplastik von Josef Mikutta, dem Hausmeister des Anwesens. Sie hat den Status eines Kunstdenkmals noch nicht erreicht.

  1. Wasserpumpe

Vor dem Kindergarten befindet sich eine alte gusseiserne Wasserpumpe.  Schlegel­­pumpen dieser Art befanden sich vor Errichtung der öffentlichen Wasserleitungen in vielen Kirdorfer Anwesen. Sie ist eines der wenigen erhalten gebliebenen Exemplare.

  1. Bunker

Im Zweiten Weltkrieg wurde unter dem abschüssigen Gelände des Gartens ein Bunker errichtet, der den Kirdorfern als Zufluchtsstätte bei Luftangriffen diente. Der aus Backsteinen errichtete Bunker wurde nach dem Krieg wieder entfernt. Die Steine wurden bei Wohnhaus-Neubauten wiederverwandt.

  1. Treppenhaus

Schon beim Betreten des Gebäudes spürt jeder Besucher bereits im großzügig angelegten Treppenhaus eine besondere Atmosphäre. Unter den Augen groß­formatiger Bilder geht man würdevoll und ehrfurchtsvoll die Treppe empor. Durch die kleine Klappe in der Eingangstür wurden den Schwestern bei Familienfesten und Feiern selbstverständlich etwas vom Essen überreicht und Hungrigen von den Schwestern etwas zu Essen gegeben.

  1. Sakristei

Die funktionell eingerichtete Sakristei befindet sich ein großer Schrank für die Gewänder des Priesters und der Ministranten, sowie für die Altartischwäsche. Er dient dem Priester außerdem als Ankleide. Daneben befand sich auch ein Tresor für die Messkelche in dem Raum.

  1. Kapelle

In der erste einige Jahre nach dem Gebäude errichteten Kapelle wurde seit dem 16. Juni 1890 das Allerheiligste Sakrament aufbewahrt. Mindestens einmal wöchent­lich wurde in ihr die Heilige Messe gefeiert.  Im Chorraum stand ursprünglich ein Hochaltar mit einem Sandsteintisch, einem Taber­nakel in der Mitte und einem großen Holzkreuz darüber. Die Kapelle wurde um 1980 modernisierend umge­staltet. Der Altar wurde beseitigt. Der Altar­tisch fand in der Gedächtniskapelle auf dem Friedhof an der Friedensstraße eine neue Funktion. Das Altarkreuz hängt heute in der Sakristei der St. Johannes­kirche.  

  1. Sanitätszimmer (1. OG, rechts über Kapelle)

In diesem Raum befand sich das Sanitätszimmer der Schwestern. Ab etwa 1973 wurde von der Caritas ein Kleiderlager für Bedürftige eingerichtet. Danach wurde der Raum als Gemeinderaum benutzt. Heute hat er keine besondere Funktion mehr.

  1. Nähzimmer (2. OG, rechts über Kapelle)

Die Nähschule, also der Nähunterricht wurde in diesem Raum durchgeführt. Dafür wurden Wandschränke in die Nischen eingebaut. Dieser Raum stellten die Schwes­tern auch mehrmals Bischof Ketteler als Wohnraum zur Verfügung, wenn er in Kirdorf weilte. Der Mainzer Bischof war in Kirdorf sehr beliebt und auch er mochte die Kirdorfer. In keinem Haus fehlte ein Bild von ihm. Er pflegte bei seinen Besuchen sie stets mit „Meine lieben Kirdorfer...“ anzusprechen, was die Zuneigung natürlich verstärkte.

  1. Glocke

Im Glockenstuhl im Dachreiter über dem Giebeldach des Schwesternhauses hängt eine Glocke, die früher zu jedem Gottesdienst in der Kapelle und zu besonderen Anlässen geläutet wurde. Sie wurde beim Bezug des Gebäudes aus der Alten Schule an der Bachstraße hierher verbracht. Dort waren vorher zwei Glocken vorhanden. Eigenartig – und bis heute nicht geklärt –  ist die Frage, warum es sich bei der Glocke um eine Glocke der Darmstädter Ludwigsbahn handelt. Die Schwestern­haus­glocke war also ursprünglich eine Eisenbahnglocke!  

  1. Schluss

In diesem Jahr erfolgten umfangreiche Umbaumaßnahmen, von denen alle Gebäude des Ensembles betroffen sind. Nach Abschluss werden sie hier dokumentiert.

Noch heute, bereits 44 Jahre nach der Auflösung des Schwesternhauses, sind die besondere Atmosphäre und der Segen, der sich von diesem Ort über die Gemeinde in Kirdorf ergoss, noch deutlich spürbar. Gott sei Dank!

Stefan Ohmeis, 2015

 

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